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DIE KABINETTSRATSPROTOKOLLE IN UMFELD DER AKTENÜBERLIEFERUNG
 

Mit den vorliegenden Kabinettsratsprotokollen setzt eine kontinuierliche Aktenüberlieferung in einer Zeit weitgehender behördlicher "Unschriftlichkeit" wieder ein. Eine Unschriftlichkeit, die bedingt war durch das den Zeitumständen entsprechende Zerbrechen der Verwaltungsstrukturen, aber auch durch das Bemühen der NS-Machthaber, die ihre Tätigkeit und ihre Verbrechen dokumentierenden Aufzeichnungen, soweit solche überhaupt noch entstanden, dem Gegner nicht in die Hände fallen zu lassen.

Mag es auch auf unteren Verwaltungsebenen bisweilen lückenlose Aufzeichnungen geben, so enden die im Österreichischen Staatsarchiv aufbewahrten, das gesamte Bundesgebiet betreffenden Archivalien grundsätzlich spätestens 1939, mit der endgültigen Liquidierung der nach dem Anschluß noch bestehenden Ministerien des Landes Österreich und dem Auslaufen der Tätigkeit des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Wien als verwaltungstechnischen Zentralraum zu beseitigen, war erklärtes Ziel vor allem der Nationalsozialisten aus dem "Altreich". Infolgedessen finden sich im Staatsarchiv für die Jahre ab 1939 bis Kriegsende primär die Akten der staatlichen Verwaltung des Reichsgaues Wien, die - je weiter der Krieg fortschritt und sich ungünstig für das Regime entwickelte - immer dünner werden. Immer mehr Verwaltungstätigkeiten werden unter dem Schlagwort "Totaler Krieg" auf ein Minimum beschränkt, wenn nicht überhaupt eingestellt oder aber jenen, das diktatorische System kennzeichnenden Behörden übertragen, von welchen - zumindest im Staatsarchiv - keine Akten überliefert sind: Gaurüstungsinspektion, Bevollmächtigter für den Nahverkehr, Gestapo, Rüstungsinspektion, Reichsverteidigungskommissar.

Dies sind die Gründe, warum die Jahre 1944/45 des Dritten Reiches im Österreichischen Staatsarchiv äußerst spärlich, teilweise gar nicht dokumentiert sind. Nur natürlich erscheint es, daß die Phase der Agonie des Dritten Reiches und die ersten Wochen nach dessen Zusammenbruch eine Verlängerung der nahezu aktenleeren Zeit mit sich brachten.

In dieser Periode mangelnder schriftlicher Überlieferung aktenproduzierender Stellen setzt die Tätigkeit des Kabinettsrates ein. Zwar langten bereits frühzeitig Lageberichte in den wiedererrichteten Staatsämtern bzw. in der Staatskanzlei ein, die inhaltlich teilweise sogar bis in den April 1945 zurückgriffen, doch waren die wieder ins Leben gerufenen österreichischen Behörden anfänglich weitgehend mit ihrer eigenen Installierung und inneren Organisierung beschäftigt.

Um so wertvoller stellen sich die Kabinettsratsprotokolle dar als - wenn auch bei weitem nicht vollkommener - Wegweiser durch die politische Entscheidungsfindung jener Zeit, wie sie in den Unterlagen der zuständigen Ressorts oft nur sehr mangelhaft dokumentiert ist. Wenn auch die Kabinettsratsprotokolle primär den Blickwinkel der Kabinettsmitglieder vermitteln, so verlieren sie ihren Wert als Leitfaden durch die Archivmaterialien und die seinerzeitige politischen Tagesprobleme nicht im Hinblick auf die sich bald intensivierende Behördentätigkeit und das damit verbundene gewaltige Anschwellen der Aktenproduktion. Gerade bei der österreichischen Kanzleitradition, wie sie bis in die 70er Jahre fortgepflegt wurde, genügt es keineswegs, die Aktenkartons des Jahres 1945 einzusehen, um die komplette Tätigkeit des betreffenden Ressorts in diesem Jahr ermessen zu können. Oft erliegt ein im Jahr 1945 angelegter Akt - und gerade auch bei langwierigen und bedeutenden Angelegenheiten - in einem viele Jahre jüngeren Aktenjahrgang. Daher wurde auch bei der Kommentierung der vorliegenden Protokolle bis auf Akten des Jahres 1953 vorgegriffen. Der Vorteil der Kabinettsratsprotokolle liegt nun darin, daß es sich hier um eine kontinuierliche Sichtbarmachung der politischen Tagesaktualitäten handelt.

Behindert wurde nicht nur die Arbeit an der vorliegenden Edition, sondern wird die historische Forschung überhaupt durch eingetretene Aktenverluste. Diese sind oft durch Unverstand verursacht, indem mangels an Bewußtsein um den Wert historischer Quellen in den aktenproduzierenden Stellen Skartierungen älterer, für die aktuelle Behördentätigkeit nicht mehr nötig erscheinender Aktenjahrgänge durchgeführt wurden. Andererseits wurden dem Aktenbestand der Staatspolizei (Bundesministerium für Inneres) im Gefolge der seit Jahrzehnten immer wieder geforderten Vernichtungsaktionen von "Spitzelakten“ empfindliche Verluste zugefügt, die beinahe auch die für die Geschichte Österreichs während der NS-Zeit so wichtigen Gauakten betroffen hätten. Dies führt dazu, daß in manchen Archivalienbeständen arge Lücken vorhanden sind. So ist das Präsidium des Staatsamtes/Bundesministerium für Inneres mit lediglich 9 Grundzahlen aus dem Jahr 1945 überliefert. Die im Bundesministerium noch vorhandenen Filmrollen mit weiteren Akten, die vor ihrer Vernichtung verfilmt worden waren, konnten trotz entsprechender Kontaktnahme nicht beigebracht werden. Oft dominieren das Schlagwort "Datenschutz", der natürlich auch von Seite des Archivs berücksichtigt wird, und das Bestreben, auch sehr alte Akten für einen allfälligen Gebrauch bei der Hand zu haben gegenüber dem Verständnis für die Anliegen der historischen Forschung, die letztlich nicht nur eine rein akademische Note verfolgt, sondern auch eine demokratische Kontrolle behördlicher Tätigkeit anderer Art als jene durch den Rechnungshof oder die gewählten Volksvertreter darstellt.

All diese Gründe führen dazu, daß etwa von der angesichts der Situation 1945 (politische Säuberung des Funktionärsapparates jeglicher Art in Österreich, Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechern) besonders bedeutsamen staatspolizeilichen Abteilung (Abt.2) des Bundesministeriums für Inneres, an dessen Wirken sich auch für die Besatzungsmächte der Wille Österreichs zur Abrechnung mit der Vergangenheit und zur Bereitschaft für einen demokratischen Neubeginn maß, nur 3 Kartons Originalakten (Grundzahlen) neben 11 Mikrofilmen im Archiv der Republik überliefert sind. Dies erscheint dem Kenner überraschend viel, doch muß dabei in Betracht gezogen werden, daß der indexmäßige Zugriff auf diese Akten lediglich über eine für die hier in Frage stehende Anfangszeit der Zweiten Republik sehr unvollkommene Kartei möglich war und die zeitgenössischen Indexbände erst im Jänner 1995 in das Archiv gelangten. Dieser Mangel wurde um so schmerzlicher empfunden, als es gleichzeitig an den klärenden Leitlinien (wie etwa den Präsidialakten) fehlte, welche für die historische Forschung eine Deutlichmachung und Strukturierung jener Problemstellungen bedeuten würde, welche die innerösterreichische Politik nicht nur unter Gesichtspunkten der politischen Moral und der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des Alltagslebens nach innen, sondern unter dem Druck der Besatzungsmächte auch nach außen bestimmten. Um so erfreulicher ist es, daß in letzter Zeit unter Mithilfe verständnisvoller Beamter die Bestände des Archivs angereichert werden konnten und das Archiv der Republik - soweit es seine zahlreichen anderen Aufgaben zulassen - an der Erschließung dieser bedeutsamen Quellen arbeiten kann.

Glücklicherweise sind im Staatsarchiv - in unterschiedlichem Ausmaß und in überlieferungsbedingt sehr verschiedenem Erschließungsgrad - nicht nur Akten jener Stellen erhalten, an denen sich der Wille zur Abrechnung mit der Vergangenheit und Neubeginn dokumentierte (Staatsämter bzw. Bundesministerien für Inneres und Justiz), sondern auch jene, welche die Schwierigkeiten der Provisorischen Regierung Renner im Hinblick auf die anderen Ressorts belegen.