Die Edition der Tagesnotizen von Adolf Schärf des Jahres 1952

Ziel des Gesamtprojektes ist es, die in Gabelsberger-Stenographie – und dadurch für die Forschung bis jetzt nicht zugänglich –abgefaßten Tagesnotizen von Adolf Schärf zu edieren. Nach einem Pilotprojekt (Adolf Schärf Tagebuchnotizen des Jahres 1955), das im Studienverlag vor Kurzem erschienen ist, soll nun beginnend mit 1952 - dem ersten Jahr, für das es Aufzeichnungen in dieser Form gibt – die Edition fortgesetzt werden.


Das Jahr 1952

Das Jahr 1952 ist das erste Jahr, in dem Adolf Schärf seine politische Tätigkeit (Begegnungen und Gespräche mit Parteifreunden, Verhandlungen mit dem Koalitionspartner und internationalen Vertretern, etc.) nicht mehr bloß in einzelnen Gesprächsprotokollen und gelegentlichen Notizen im Terminkalender festhielt, sondern in kontinuierlicher und mitunter sehr ausführlicher Form in einer Art Tagebuch dokumentierte.
Ausschlaggebend für diesen Entschluss könnte jene Vorsprache des amerikanischen Botschafters und zweier Vertreter der Marshallplan-Behörde am 3. Jänner 1952 gewesen sein, in der diese Leopold Figl und Adolf Schärf sehr nachdrücklich mit der Forderung nach einer Reihe einschneidender wirtschaftspolitischer Kursänderungen im Sinne von Inflationsbekämpfung und Budgetsanierung konfrontierten.
Die Forderungen entsprachen über weite Strecken den Konzeptionen des innerhalb in der ÖVP immer mehr in den Vordergrund drängenden Wirtschaftsflügels unter Julius Raab und fanden ihren Ausdruck im sogenannten "Kamitz-Plan" des noch im Jänner neu berufenen Finanzministers Reinhard Kamitz.
Dieser nach Abschluss der vorrangigsten Aufgaben des Wiederaufbaus versuchte Kurswechsel, der unmittelbar ein sprunghaftes Ansteigen der Arbeitslosigkeit, eine Stagnation des Bruttoinlandsproduktes und sogar einen Rückgang der Industrieproduktion zur Folge hatte, markierte nach Adolf Schärf den Beginn einer mehrere Jahre dauernden Auseinandersetzung um die Neuverteilung des Nationaleinkommens; einer Auseinandersetzung zwischen einer "im wesentlichen neoliberalistischen Wirtschaftspolitik" und "einer modernen, sozialistischen Wirtschaftspolitik" vergleichbar mit "der New-Deal-Politik Roosevelts, der Fair-Deal-Politik Trumans und der Politik des Wohlfahrtsstaates der englischen Abeiterpartei" (Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945-1955, Wien 1955, S. 300).
Die Aufzeichnungen Schärfs dokumentieren die einzelnen Phasen dieser Auseinandersetzung, die bereits ab Februar den Gedanken an Neuwahlen entstehen ließ und schließlich im Herbst in einer manifesten Regierungskrise kulminierte. Gleichzeitig lassen sie die eminente Rolle der Marshallplan-Behörde in der österreichischen Wirtschaftspolitik erkennen und machen deutlich, in welchem Maße der später so bezeichnete "Raab-Kamitz-Kurs" weniger ein Kurs im eigentlichen Sinn als vielmehr Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels mit wechselnden Bündnissen zwischen den beiden Koalitionsparteien einerseits und der Marshallplan-Behörde andererseits war.
Ein Beispiel dafür bildet die dreiwöchige Reise Schärfs in die Vereinigten Staaten im März 1952, auf der er in Treffen mit Regierungs- und Gewerkschaftsvertretern sowie in zahlreichen Rundfunkauftritten für die Fortsetzung der bis dahin geübten, langfristig orientierten Investitionspolitik eintrat und so erreichte, dass nach seiner Rückkehr auch die Wiener Stellen der Marshallplan-Hilfe nunmehr "mehr Verständnis für die von den Sozialisten geäußerten Ansichten über die Investitionspolitik zeigten" (Schärf, S.310).

Ein anderes Beispiel bildet die Frage der mit sehr wechselnder Intensität betriebenen Untersuchung von Unregelmäßigkeiten bei den österreichischen Staatsbanken.
Niederschlag in den Aufzeichnungen fanden weiters die innenpolitisch hohe Wellen schlagende Frage der Rückgabe der unter öffentlicher Verwaltung stehenden Güter des ehemaligen Heimwehrführers Ernst Rüdiger Starhemberg sowie die Ermittlungen wegen Amtsmissbrauchs gegen den ehemaligen Minister für Vermögenssicherung Peter Krauland und den Wiener Stadtrat Ernst Robetschek.
Gegenstand zahlreicher Gespräche war auch die Frage der Wiederaufnahme der Staatsvertragsverhandlungen, bei denen allerdings im Kontext der gespannten internationalen Lage und auf der Basis des von den Westmächten vorgelegten und letztlich als Propagandamanöver konzipierten sogenannten "Kurzvertrages" von nennenswerten Fortschritten keine Rede sein konnte.
Erstmals aktuell wurde 1952 auch die Frage von Wiedergutmachungszahlungen an jüdische Organisationen.

Daneben gab es viele Gespräche – vor allem mit Bundeskanzler Raab – über Personalfragen bei der Besetzung von wichtigen Positionen in Staat und Wirtschaft.
Vor dem Hintergrund dieser Themenvielfalt gibt Adolf Schärf in seinen Tagesnotizen nicht nur das tägliche Geschehen wieder, sondern lässt in seinen Erinnerungsvermerken auch Einschätzungen und Reflexionen einfließen.
Die Tagesnotizen vertiefen mit ihrer Vielfalt an detailliert behandelten politischen und wirtschaftlichen Fragen das Wissen um wichtige Jahre des Wideraufbaues der Zweiten Republik. Sie zeigen deutlich das enge Verhältnis zwischen den Spitzenpolitikern der beiden großen Parteien und das großkoalitionäre Vorgehen bei allen wesentlichen Entscheidungen im Staat.
Die Aufzeichnungen zeigen aber auch wie weitreichend die persönlichen Verbindungen Adolf Schärfs waren. Neben ParteigenossenInnen, ParlamentarierInnen, MinisterInnen, DiplomatInnen und Staatsmännern des In- und Auslandes, traf Schärf auch JournalistInnen, KünstlerInnen, Bekannte und FreundInnen. Nicht zuletzt stellt die Fülle der biographisch zu erfassenden Personen eine Herausforderung für Bearbeiter- und HerausgeberInnen dar.

Editionsgrundsätze

Die Tagesnotizen werden ungekürzt ediert. Bei familieninternen Details – etwa in Gesundheitsfragen – wird den Wünschen der Familie auf Weglassung entsprochen. Offensichtliche Schreibfehler im Text werden bereinigt. Sprachliche Unebenheiten werden belassen.
Wo es wichtig und sinnvoll erscheint, werden zusätzliche historisch besonders relevante Materialien aus dem Nachlass Schärfs in die Edition aufgenommen.
Der Anmerkungsapparat wird so einfach wie möglich gehalten. Es werden: Erläuterungen zu Sachzusammenhängen gegeben; Abkürzungen aufgelöst; Personen identifiziert, unbemerkt gebliebene Irrtümer richtig gestellt; auf in Sinn- und Zeitzusammenhang stehende Ministerratsprotokolle verwiesen; auf in Zusammenhang stehende andere Tagesnotizen verwiesen.
Hinweise auf Literatur werden nur gegeben, wo dies unbedingt notwendig erscheint. Der Anmerkungsapparat soll keine Geschichtsdarstellung leisten, sondern vielmehr durch seine Erläuterungen und Ergänzungen das Verständnis erleichtern und zu weiteren Forschungen anregen.

Ein Schwerpunkt des Anmerkungsapparates liegt bei den biographischen Angaben zu den Personen, die in den Tagesnotizen vorkommen. In den Anmerkungen finden sich vor allem jene Lebensdaten, die Aufschluss über die Stellung der Personen zum Zeitpunkt der Erwähnung geben. Im Anschluss an den Quellentext liefert ein umfangreiches Personenregister zusätzliche Informationen.
Ein Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, biographische Angaben zu Adolf Schärf, Publikationen über und von Adolf Schärf, die Zusammensetzung der Bundesregierung 1952 und ein Glossar zu den Einrichtungen der SPÖ werden die Benützung der Quelle zusätzlich erleichtern.
Die Publikation ist für Ende 2009 geplant.

Gertrude Enderle-Burcel

Anm.: Die Ausführungen zum Jahr 1952 basieren auf einer Zusammenfassung des Bearbeiters der Tagesnotizen des Jahres 1955, Klaus Rubasch, der auch die Transkription der Texte aus der Gabelsberger-Stenographie für den ersten Band durchgeführt hat und in weiterer Folge auch für die Bearbeitung der geplanten Bände vorgesehen ist.