Hochgeehrter Herr Präsident!

Ich erlaube mir den Vorschlag, es sei im Reichsratsgebäude ein parlamentsgeschichtliches Museum einzurichten.
Dieses Museum, dem man den Namen "Geschichtliche Kammer" geben könnte, hätte Denkwürdigkeiten und Schaustücke aller Art aus der Geschichte des Wien-Kremsierer Reichstags von 1848/49, des österreichischen Reichsrats und der deutschösterreichischen Nationalversammlung zu enthalten. 
Wichtige Urkunden und Akten (die im Jahre 1861 den beiden Häusern des Reichsrats vom Staatsminister v. Schmerling übergebenen Prunkexemplare des Oktoberdiploms und der Februarverfassung); 
Porträts hervorragender österreichischer Parlamentarier und Staatsmänner (Gemälde, Büsten, Statuetten, dann Lithographien, worunter dies vorzügliche alte von Kriehuber befinden, Photos, auch Karikaturen; 
Ansichten der verschiedenen Parlamentsgebäude (AUssenansichten und Abbildungen der Sitzungssäle und sonstigen Innenräume), also der Hofreitschule, in der der Wiener Reichstag von 1848 zusammentrat, des erzbischöflichen Schlosses in Kremsier, des "Schmerlingtheaters" vor dem Schottentor ujnd des niederösterreichischen Landhauses, in welch letzterem das Herrenhaus anfangs tagte, des neuen Reichsratsgebäudes, allenfalls des Hauses der österreichischen Delegation in Budapest; 
Bilder historischer Szenen, die sich in und vir den Parlamenten abgespielt haben; 
Denkmünzen und Plaketten (auch solche, die zur Erinnerung an Kongresse, welche im Reichsratsgebäude abgehalten worden sind, geprägt wurden); 
andere Gegenstände von geschichtlichem oder Kunstwert, die sich auf die österreichische Parlamentsgeschichte beziehen. Ein Kabinettsstück der "Geschichtlichen Kammer" könnte beispielsweise die vom Herrn Kanzleidirektor Hofrat Kupka verwahrte silberne Glocke des Präsidentend des Reichsrats von 1848 bilden. 
Heute liesse sich bei Kunsthändlern und Antiquaren noch manch wertvolles und interessantes Stück aus älteren Zeiten, das die Wände und Glaskästen der "Geschichtlichen Kammer" zieren würde, erwerben. Mit einigen tausend Kronen wären die ersten Anschaffungskosten, mit jährlich tausend bis zweitausend Kronen die allmähliche Ausgestaltung der Kammer zu bestreiten. Vielleicht könnten der Kammer auch aus anderen staatlichen Anstalten parlamentsgeschichtliche Objekte überwiesen werden. Für alle Zukunft bliebe dies Museum eine Sehenswürdigkeit, die das Interesse von Politkern, Geschichtsforschern und des Publikums erwecken würde, weshalb sich die nicht allzu hohen Kosten der Begründung gewiß lohnen würden. 
Bei diesem Anlaß gestatte ich mir zu bemerken, dass es sich dringend empfehlen würde, die derzeit voneinander ganz entlegenen Archive des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses des ehemaligen Reichsrates zu vereinigen und zusammen mit dem Archiv der Nationalversammlung und der "Geschichtlichen Kammer" in den rückwärtigen Trakt des Reichsratsgebäudes zu verlegen, damit das neue Gesamtarchiv sich der Bibliothek möglichst nahe befinde. Der Anschluss an die Bibliotheksräume wäre aus dem Grunde geboten, weil Archiv und Bibliothek vielfach Hand in Hand zu arbeiten haben. 

Wien, 17. April 1919

Dr. Karl Neisser
Staats-Archivsdirektor der Nationalversammlung

[An den Herrn Präsidenten der Konstituierenden Nationalversammlung Karl Seitz in Wien]